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Weil Begegnung glücklich macht
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Beziehungen
Weil Begegnung glücklich macht

Stellen Sie sich vor, Sie unternehmen eine Reise und betreten das Zugabteil. Überall sitzen fremde Menschen. Sie fragen sich: «Setze ich mich dort drüben im leeren Abteil ans Fenster oder hier zu diesen beiden Damen mit dem Strickzeug?»

Christian Alt
M.A., «Leben & Gesundheit»-Berater im Außendienst

«Steh dir nicht selbst in der Sonne!» Dieser Rat trifft einen empfindlichen Nerv unseres menschlichen Verhaltens. Er gilt nicht nur für gelegentlich verpasste Chancen, weil wir etwa in einem entscheidenden Moment zu wenig geistesgegenwärtig oder mutig waren. Wir verpassen den berühmten «Platz an der Sonne» nicht selten deshalb, weil wir unsere Möglichkeiten zu einem positiven Leben falsch einschätzen oder gar ignorieren. Die psychologische Forschung spricht von «emotionaler Vorhersage». Sie betrifft die menschliche Fähigkeit oder Unfähigkeit, vorauszusehen, wie sich das persönliche Leben in Zukunft anfühlen wird. Fehleinschätzungen dazu sind bei uns an der Tagesordnung.

Zurück im Zug ...
Wir wissen, was die meisten von uns tun, wenn sie im Zug ihren Sitzplatz auswählen können: Wir werden uns für den ruhigen, einsamen Fensterplatz entscheiden. Aber ist das tatsächlich die glücklichere Wahl? Das wollten Verhaltensforscher der Universität von Chicago herausfinden. Sie verwandelten eine lokale Zugstrecke in ein rollendes Untersuchungslabor. Die Fragestellung an Reisende, die sich für das Forschungsexperiment zur Verfügung stellten, lautete: «Was denken Sie, wird Ihre Reise angenehmer machen: a) Wenn Sie sich zu einer unbekannten Person setzen und mit ihr das Gespräch suchen oder b) Wenn Sie privat und still für sich reisen?». Eine große Mehrheit entschied sich erwartungsgemäß für Antwort b). Doch genau das Gegenteil traf ein! Wenn die Versuchsteilnehmer nämlich dazu aufgefordert wurden, das Gespräch mit unbekannten Mitreisenden zu suchen, gaben die allermeisten danach an, eine unerwartet positive Erfahrung gemacht zu haben. Es gibt unzählige wissenschaftliche Untersuchungen, die belegen, dass Menschen im Allgemeinen schlecht voraussehen, was ihnen tatsächlich guttut. Wir neigen dazu, unsere Kosten deutlich stärker zu gewichten als mögliche Gewinne. Das kann dazu führen, dass wir, ohne es zu merken, auf einer Goldmine sitzen. Davon ist zumindest der aktuelle Studienleiter der Harvard-Glücksstudie überzeugt.

Auf den Spuren des Glücks
1938 begann an der Harvard-Universität in Cambridge im US-Staat Massachusetts ein Forschungsprojekt mit dem Ziel, dem Geheimnis eines glücklichen und langen Lebens auf die Spur zu kommen. Am Anfang standen zwei unabhängige Forschungsprojekte, die schließlich zusammenwuchsen. Das eine untersuchte eine Gruppe von 268 gut situierten Harvard-Studenten im Grundstudium. Das andere nahm das Leben von 456 benachteiligten Jugendlichen aus schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen aus der Innenstadt der nahen Metropole Boston unter die Lupe. Insgesamt waren dies 724 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Diese Studie ist außergewöhnlich, weil sie bis heute, das heißt über einen Zeitraum von mehr als 85 Jahren hinweg, erfolgreich weitergeführt werden konnte. Sie schließt insgesamt 1300 Nachkommen der ersten Teilnehmenden ein und ist damit generationsübergreifend geworden. Eine enorme Datenfülle aus medizinischen Untersuchungen, individuellen Fragebögen und Tausenden von Interviewaufzeichnungen steht den Forschenden zur Verfügung. Beispielsweise wurden verschiedenen Paaren über einen Zeitraum von 50 Ehejahren acht Mal dieselben Fragen zu ihrer Beziehung vorgelegt. Die Ergebnisse machten es möglich, von jeder Partnerschaft nicht nur exakte «Momentaufnahmen» zu dokumentieren, sondern mit der Zeit gewissermaßen einen ganzen «Film» ihrer Entwicklungsverläufe und bestimmte Muster über ein ganzes Leben hinweg zu erkennen. So ist wertvollstes Wissen entstanden. Waldinger spricht von einer Schatztruhe an Informationen. Auf dieser Grundlage können heute zuverlässige Prognosen dazu gemacht werden, was ein glückliches und erfülltes Leben letztlich ausmacht.

Robert J. Waldinger – ein Forschungsleiter mit Leidenschaft
Robert Waldinger, geboren 1951 in den USA, ist seit 2003 der vierte Direktor der Harvard-Glücksstudie. Er liebt seinen Beruf als Psychotherapeut im Kontakt mit einzelnen Menschen. Im Hörsaal der Harvard Medical School schätzt er es, als Professor seine Erfahrung und sein Wissen an junge Studierende weiterzugeben. Schon in seiner Kindheit verspürte er den Wunsch, sich mit einzelnen Menschen und ihren Lebensgeschichten vertraut zu machen, um sie darin zu unterstützen, glücklichere Menschen zu werden. Durch die Harvard-Glücksstudie erhielten Waldinger und sein Team die Gelegenheit, weit über menschliche Einzelschicksale hinaus blicken zu können und über Forschergenerationen hinweg allgemeingültige Zusammenhänge und Antworten darauf zu finden, was Menschen auf Dauer gesund erhält und glücklich macht. Doch die Forschungsergebnisse waren zu wertvoll, um sie lediglich Experten in wissenschaftlichen Fachbeiträgen zugänglich zu machen. Waldinger und sein Assistent und Freund Marc Schulz haben dazu deshalb 2023 ein populärwissenschaftliches Buch in über zwanzig Sprachen veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung ist Ende August erschienen (siehe Buchtipp auf S. 7). Wer dieses Buch liest oder Interviews mit Waldinger verfolgt1, spürt dessen persönliche Begeisterung. Er bezeugt, dass die Resultate dieser Forschung sein eigenes Leben maßgeblich bereichert haben.

Bestätigung und Staunen
Zunächst wird durch die Harvard- Studie bestätigt, was bereits unzählige andere Untersuchungen zu Gesundheit und Wohlergehen belegen: Gesundheitsvorsorge lohnt sich in hohem Maß. Faktoren wie gesunde Ernährung, regelmäßige körperliche Bewegung in der Natur, ein Gleichgewicht zwischen Aktivität und Ruhe, Verzicht auf Drogen und schädliche Substanzen und so weiter machen einen eindeutig positiven Unterschied hinsichtlich der Lebenszufriedenheit und der Länge des Lebens. Das NewstartPlus®-Konzept steht ganz im Dienst dieser Erkenntnisse und fasst die wesentlichen Faktoren für ein gesundes und glückliches Leben übersichtlich zusammen. Doch die Harvard-Studie förderte auch eine Überraschung zutage. Waldinger selbst war zu Beginn skeptisch und wollte andere, ähnliche Studien zu Rate ziehen, um mehr Sicherheit zu gewinnen. Dabei bestätigte sich immer deutlicher, dass er es hier mit robuster wissenschaftlicher Erkenntnis zu tun hatte. Waldinger fasst diese wie folgt zusammen: «Nachdem wir Hunderte von Menschen während ihres gesamten Erwachsenenlebens untersucht haben, zeigt sich, dass diejenigen Leute die glücklichsten und gesündesten sind, die gute und warmherzige Beziehungen zu anderen Menschen pflegen.» Gute, unterstützende Beziehungen sind ein Schlüsselfaktor für ein gesundes und glückliches Leben. Dabei ist mit Glück nicht eine kurzfristige gute Stimmung gemeint, sondern ein anhaltendes Lebensgefühl, das auch mit Synonymen wie Wohlergehen, Wohlbefinden, Aufblühen oder Gedeihen umschrieben werden kann. Es geht hier um mehr als um eine gute Zeit. Es geht um ein gutes Leben. Bei aller Begeisterung ist sich Waldinger bewusst, dass es unzählige widrige Faktoren im Leben gibt, die wir nicht beeinflussen können und die es anzunehmen gilt. Er weist jedoch darauf hin, dass die meisten Menschen deutlich mehr Spielraum haben, ihr eigenes Lebensglück zu steigern, als sie es für möglich halten2. Waldinger unterstreicht: «Gute Beziehungen machen uns glücklicher, gesünder und tragen dazu bei, dass wir länger leben. Das bewahrheitet sich über alle Kulturen und Lebensumstände hinweg und bedeutet, dass es mit großer Sicherheit auch für Sie und für praktisch jedes menschliche Wesen, das jemals gelebt hat, Gültigkeit hat.»

Den eigenen «Beziehungskosmos» neu wahrnehmen
Waldinger und Schulz begnügen sich in ihrem Buch «The Good Life» nicht damit, die theoretischen Erkenntnisse der Glücksforschung zu präsentieren. Vielmehr zeichnen sie anhand verschiedener Biografien und Geschichten ganz praktische Linien, die dazu anleiten und motivieren, den eigenen «Beziehungskosmos» wahrzunehmen und konkret daran zu arbeiten. Mit vielen bewährten Tipps aus der Verhaltenspsychologie leiten sie dazu an, diesen «Schatz» der guten Beziehungen im Interesse eines glücklichen gemeinsamen Lebens noch bewusster zu heben. Das Thema «Neugier» für das Leben des Mitmenschen oder «aufmerksames Wahrnehmen des Gegenübers», eine Kultur der Dankbarkeit, des Gebens statt des Nehmens und der konstruktiven Konfliktlösung sind Strategien, die man auf dem spannenden Weg guter Beziehungen nach und nach lernen kann. Eine kleine Bestandsaufnahme des eigenen «Beziehungskosmos» kann zu Beginn die Augen für die bereits vorhandene reiche Vielfalt an Menschen um uns herum öffnen. Es ist auch hilfreich, die verschiedenen Formen und Felder von Beziehungen (Freundschaften, Familienangehörige, Arbeitskolleginnen und -kollegen, intime Partnerschaften) einzeln in Bezug auf ihren besonderen Wert für unser Glück wahrzunehmen. Machen wir uns bewusst – manchmal realisieren wir das erst am Tag danach –, wie viel positive Lebensenergie uns aus guten Begegnungen zufließt? Was viele Menschen ebenfalls massiv unterschätzen, ist der Wert von alltäglichen und beiläufigen Begegnungen. So erinnert Waldinger daran: «Nur wenige von uns realisieren, dass einige unserer wertvollsten Beziehungen aus Menschen bestehen, mit denen wir nicht sehr viel Zeit verbringen oder die wir nicht sehr gut kennen. Sogar der Austausch mit völlig fremden Menschen enthält viele versteckte Geschenke».

Wie wäre es also, unsere Beziehungen neu daraufhin zu befragen, wie viel sie zu unserer Lebensqualität und unserem Glück beitragen und sie dementsprechend wertzuschätzen und aktiv zu pflegen? Wie wäre es, morgen mit dem Postboten ein kurzes freundliches Wort zu wechseln oder mit der Frau an der Supermarkt-Kasse? Oder sich im Zug einen kleinen Ruck zu geben und sich zu den zwei Damen mit dem Strickzeug zu setzen? Wenn uns diese große Harvard-Glücksstudie etwas sagen kann, dann ist es das: Es lohnt sich unbedingt, in Beziehungen aller Art zu investieren. Mit Waldingers Worten: «Egal, wie alt du bist, in welchem Lebensabschnitt du dich befindest, ob du verheiratet bist oder nicht, introvertiert bist oder extrovertiert: Jede Person kann heute positive Wendungen in ihrem Leben auslösen». Und warum? Schlicht, weil Begegnung glücklich macht!


1 www.youtube.com/watch?v=8KkKuTCFvzI&t=1s; www.youtube.com/watch?v=IStsehNAOL8
2 Waldinger verweist auf die Psychologin und Forscherin Sonja Lyubomirsky, die aufgrund robuster wissenschaftlicher Studien argumentiert, dass unsere Handlungen und Entscheidungen für unser Lebensglück keinen geringeren Unterschied als 40 % ausmachen. (The Good Life, S. 49)

 

 

 

 

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